Damaskus hat sich seit dem ersten Monat nach dem Sturz des Assad-Regimes verändert. Die Zufriedenheit und der Optimismus, die ich in meinem ersten Brief beschrieben habe, strahlen nicht mehr aus den Gesichtern der Menschen, denn angesichts der rasanten Entwicklungen und Ereignisse drängen sich Sorgen um die Zukunft aller auf. Konsens und Akzeptanz sind nicht mehr das Leitmotiv der Diskussionen unter Syrer*innen, ob Aktivist*innen der Zivilgesellschaft, Politiker*innen oder manchmal sogar Menschenrechtsverteidiger*innen. Anhand der jeweiligen Sorgen und Problemlagen bilden sich Allianzen und Lager, die die Ereignisse jeweils unterschiedlich interpretieren. Die sozialen Medien haben sich in regelrechte Schlachtfelder verwandelt.
In den letzten Monaten hat sich innenpolitisch viel getan, und die tiefgreifenden und schnellen Veränderungen machen es zweifellos schwierig, Schritt zu halten, sie zu analysieren und zu versuchen, ihre Auswirkungen zu verstehen.
Trotz aller Entwicklungen, auf die ich später noch eingehen werde, sind nur die katastrophalen Wirtschafts- und Lebensbedingungen unverändert geblieben, beziehungsweise haben sie sich weiter verschlechtert. Drei Monate nach dem Sturz des Assad-Regimes ist die Armut überall sichtbar. Die Einwohner*innen von Damaskus haben weiterhin nur sporadisch und unregelmäßig drei Stunden Strom pro Tag, was sich auf alle Bereiche des täglichen Lebens auswirkt.
Die schwarze Woche
Am 6. März versuchten ehemalige Anhänger des Assad-Regimes in der syrischen Küstenregion einen Militärputsch, der Berichten zufolge von Maher al-Assad, dem Bruder des gestürzten Präsidenten, angeführt wurde. Der Angriff richtete sich systematisch gegen die Hauptquartiere und Kontrollpunkte der Sicherheitskräfte und forderte zahlreiche Todesopfer. Als sich die Nachricht verbreitete, machte sich Angst unter den Syrer*innen breit – insbesondere unter denjenigen, die 14 Jahre lang unter Assads Unterdrückung, Folter, Morden, Bombenanschlägen und Vertreibungen gelitten hatten. Die Angst vor einer Rückkehr des Assad-Regimes an die Macht führte zu einer allgemeinen Mobilisierung – nicht nur der Regierungskräfte und ihrer verschiedenen Milizen, sondern auch der Bevölkerung selbst. Zehntausende, vor allem aus der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit, machten sich mit Privatautos und eigenen Waffen auf den Weg in die Küstenregion. Dies führte zu völligem Chaos und einer wahren Katastrophe: Es wurden Massaker begangen, vor allem an der alawitischen Bevölkerung, etliche Zivilist*innen wurden getötet, nur weil sie in bestimmten Gebieten lebten. Inmitten des Chaos kam es zu Plünderungen, Brandstiftung und Zerstörung – vermutlich durch kriminelle Banden, die die Unruhen für ihre eigene Bereicherung nutzten. Darüber hinaus eskalierte die Gewalt zwischen unterschiedlichen Konfessionsgruppen dramatisch.
All dies geschah – bzw. geschieht noch immer, wenn auch mit geringerer Intensität – doch die Überprüfung von Informationen und Nachrichten ist in Ermangelung staatlicher Medien- und Fernsehkanäle und angesichts der Flut widersprüchlicher Berichte und Gerüchte in den sozialen Medien eine so entscheidende wie anstrengende Aufgabe, die einem jegliche verbleibende Energie rauben kann.
Als am 10. März immer wieder Berichte über regelrechte Massaker auftauchten, kündigte die Übergangsregierung die Einstellung der Militäroperation an. In einer Ansprache kündigte Präsident Ahmad Al-Sharaa die Bildung eines Untersuchungsausschusses an, der innerhalb eines Monats seinen Bericht vorlegen soll. Er versprach, die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen und für Aufklärung zu sorgen. Darüber hinaus kündigte er die Einrichtung eines Ausschusses für den zivilen Frieden an, der die Aufgabe hat, sich die Sorgen der Bewohner*innen der syrischen Küstenregion anzuhören und sie mit allem Notwendigen zu unterstützen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Bis das Komitee seine Ergebnisse vorlegt, stützt sich unser Wissen über die Ereignisse auf das, was vor Ort dokumentiert wurde, Zeugenaussagen betroffener Familien und Menschenrechtsberichte, wie z. B. den vorläufigen Bericht des Syrian Network for Human Rights – einer sowohl in Syrien als auch international äußerst anerkannten Organisation – vom 11. März 2025. Berichte aus verschiedenen lokalen Quellen weisen zudem darauf hin, dass die syrischen Sicherheitskräfte ernsthafte Anstrengungen unternommen haben, Zivilist*innen zu schützen und Gräueltaten zu verhindern, die Ereignisse aber in vielen Gebieten außer Kontrolle gerieten.
Historische Einigung mit den SDF
Inmitten der Trauer um die getöteten unschuldigen Zivilist*innen und der Enttäuschung über die angesichts dieser Gewalt gespaltene Öffentlichkeit kam am Abend des 10. März eine Ankündigung: Der syrische Staat und die Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) haben ein Abkommen unterzeichnet. Dieses Abkommen zwischen der Zentralregierung und der kurdisch-arabischen autonomen Verwaltung im Norden und Osten Syriens zielt darauf ab, die Einheit des Landes zu stärken, die Gleichberechtigung der Kurd*innen in Syrien anzuerkennen und gleichzeitig die SDF im Zuge eines langfristigen Verhandlungsprozesses in die neue syrische Armee zu integrieren. Seine Wirkung sollte nicht unterschätzt werden, verspricht es doch den Binnenvertriebenen und Flüchtlingen die Rückkehr in ihre ursprünglichen Häuser. Diese Nachricht weckte bei den Syrer*innen neue Hoffnung auf die Einheit und Zukunft Syriens – die Stimmung vieler schlug von Verzweiflung zu Optimismus um.
Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer: Am 13. März wurde die Verfassungserklärung unterzeichnet. Zwar enthielt die Erklärung einige positive Maßnahmen in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und bürgerliche Freiheiten. So wurde bekräftigt, dass alle Menschenrechte und Freiheiten, die in den von Syrien ratifizierten internationalen Verträgen verankert sind, integraler Bestandteil der Erklärung sind, es wurde jedoch versäumt, die entscheidenden Fragen zum demokratischen Übergang zu beantworten. Es fehlten jegliche Hinweise auf die Umsetzung des Abkommens mit den Kurd*innen, was Fragen aufwirft, wie ernst es der Regierung mit der Einhaltung des Abkommens ist. Darüber hinaus räumte die Erklärung dem Präsidenten weitreichende Befugnisse über Exekutive, Legislative und Judikative ein und verlängerte die Übergangszeit von drei auf fünf Jahre, was im Widerspruch zu früheren Aussagen der Regierung steht. Dies löste bei einem bedeutenden Teil der syrischen Bevölkerung echte Besorgnis aus. Sie lehnen die Erklärung aus Sorge um den inneren Frieden und die Einheit Syriens ab und kritisieren die ausgrenzende Politik der neuen Regierung, die nicht bereit zu sein scheint, die Macht über ihre inneren Kreise hinaus zu teilen.
Gefährliche Weggabelung
Syrien befindet sich weiterhin an einem gefährlichen Scheideweg – gefährlicher als zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten drei Monaten – an dem die Regierung im Wettlauf mit der Zeit versucht, im Ausland Legitimität zu erlangen, ihre Herrschaft im Inland zu festigen und inmitten gravierender Herausforderungen die Sicherheit aufrechtzuerhalten. Dazu zählen insbesondere die Versuche verbliebener Anhänger des Assad-Regimes, mit Unterstützung des Iran und möglicherweise Russlands, die Macht zurückzugewinnen.
Angesichts dieser drohenden Gefahr hat sich ein großer Teil der Syrer*innen hinter die neue Regierung und Präsident Al-Sharaa gestellt und jede Entscheidung vehement verteidigt und gerechtfertigt – unabhängig von ihrem ausgrenzenden Charakter oder ihren negativen Auswirkungen auf die Demokratie. Und das, obwohl die Syrer*innen einen hohen Preis für die Demokratie und eine gemeinsame Zukunft für alle bezahlt haben. Diese Polarisierung, die sich sogar auf die Zivilgesellschaft, Intellektuelle und Akademiker*innen ausgeweitet hat, sowie die zunehmende Hetze, haben bestehende Risse vertieft und die Bemühungen um einen inneren Frieden weiter erschwert.
Politische Umbrüche gehören zu den schwierigsten und heikelsten Phasen in der Geschichte jedes Landes. In Syrien ist die Lage jedoch nach über 50 Jahren Herrschaft einer diktatorischen Familie, die für unzählige Verbrechen, Massaker und Aufhetzung zu interkonfessioneller Gewalt verantwortlich ist, außerordentlich komplex und der Aufbau eines neuen politischen Systems wird viel Zeit und Geduld erfordern.
Umbruch in Syrien – was liegt vor uns?
Angesichts dieser Realität glauben viele – mich eingeschlossen –, dass eine fünfjährige Übergangszeit, wie in der Verfassungserklärung festgelegt, nicht unbedingt eine falsche Entscheidung ist. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass alle bisherigen politischen Schritte übereilt und schlecht durchdacht waren und es ihnen trotz ihrer entscheidenden Auswirkung auf die Gestaltung der Zukunft – unserer gemeinsamen Zukunft als Syrer*innen – an der nötigen Aufmerksamkeit für Details mangelte. Dies gilt für den Vorbereitungsausschuss der Dialogkonferenz und seine hastig geführten Diskussionen, für die Konferenz selbst (die am 25. Februar in Damaskus stattfand und an der ich in der Gruppe für Transitional Justice und im Redaktionsausschuss für die Verfassungserklärung teilnahm) und sogar für die Verfassungserklärung, die keine Garantien gegen das Aufkommen eines neuen Autoritarismus enthält.
Trotz aller Fehler und Kritik sehe ich heute noch eine Chance für Reformen und einen Wandel hin zur Demokratie – wenn die neue Regierung und insbesondere Präsident Al-Sharaa den Willen haben, sie zu nutzen. Viele Syrer*innen zählen auf ihn. Jetzt ist er am Zug und hat die Möglichkeit, eine Regierung zu bilden, die alle Syrer*innen vertritt, und einen Legislativrat einzurichten, der eine breite Beteiligung ohne Ausgrenzung gewährleistet.
Syrien hat eine historische Chance, die sich so schnell nicht wieder bieten wird. Die Verantwortung liegt nun bei der Regierung, die hoffentlich erkennt, wie dringend notwendig Reformen sind: die Änderung der Verfassungserklärung, eine Öffnung für alle Syrer*innen und der Beginn eines planvollen und integrativen Dialogs. Dies könnte den Weg für zivilen Frieden, Stabilität und den Aufbau eines demokratischen syrischen Staates ebnen, der die Rechte und die Würde aller seiner Bürger*innen respektiert.
Ich persönlich bin weiterhin entschlossen, zur Zukunft meines Landes beizutragen und von meinem Büro in Damaskus aus, dessen Sanierung übrigens bemerkenswerte Fortschritte erzielt hat, am Aufbau der Übergangsjustiz mitzuarbeiten. Dasselbe gilt für das von meinem Vater Riad Seif gegründete Forum für Nationalen Dialog, dessen Hauptsitz bald fertiggestellt sein wird. Der Verwaltungsausschuss wurde nach ausführlichen Beratungen gebildet, und die Vorbereitungen für die offizielle Eröffnung sowie die Vorstellung der ersten Vorhaben sind im Gange.
Ihre Joumana Seif
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