Für wen wir klagen
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Zerstörtes Haus der Familie in Rafah im südlichen Gazastreifen © Privat

GAZA – ZWEI VON ZEHNTAUSENDEN

Für wen wir klagen

MAI 2025 | SUPPORTER NEWSLETTER

Abdel J. ist einer der Menschen, die wir vertreten. Er lebt in Gaza und verlor bei einem israelischen Luftangriff Frau und Tochter. Gemeinsam mit vier weiteren Angehörigen klagten wir mit palästinensischen Menschenrechtsorganisationen vor einem Berliner Gericht gegen deutsche Waffenexporte nach Israel. Diese Waffenlieferungen sind nicht nur völkerrechtswidrig – für Abdel J. bedeuten sie Tag für Tag eine Bedrohung seines Lebens.


Anfang des Jahres legte er eidesstattlich dar, wie er den Tod seiner Familie erlebte – und wie er heute in Gaza ums Überleben kämpft. Wir erzählen diese Geschichte nicht leichtfertig, denn sie ist kaum auszuhalten. Doch steht sie exemplarisch für Hunderttausende Palästinenser*innen, denen nichts geblieben ist, außer ihrem nackten Leben. 

Menschenrechtsanwältin und Frau von Abdel J. © Privat

14 Monate alte Tochter von Abdel J. © Privat

AUSZUG AUS DER EIDESSTAATLICHEN ERKLÄRUNG VON ABDEL J.

Ich wurde am 26. Mai 1991 in Rafah geboren und lebe dort, nahe der Ibn Tamimah Moschee. Ich bin verheiratet, Vater einer Tochter, arbeite als Planungsingenieur und betreibe einen kleinen Laden.


Am 7. Oktober 2023 begann der große Angriff der israelischen Besatzungstruppen auf den Gazastreifen. Ich blieb zunächst in meinem Haus – es galt zu der Zeit als vergleichsweise sicher. Etwa eineinhalb Monate später jedoch traf eine schwere Bombardierung das Gebiet in der Nähe. Unser Haus besteht zur Hälfte aus Beton, zur anderen aus Zinkblechplatten. Aus Sorge um ihre Sicherheit zog meine Frau N. mit unserer Tochter K. zu ihrer Familie ins Jeneina-Viertel. Ich blieb allein zurück.


Am Abend des 20. Februar 2024, gegen 21 Uhr, war ich bei meiner Frau und unserem Kind. Ich spielte mit meiner anderthalbjährigen Tochter, hatte ihr Windeln mitgebracht. Kurz danach verließ ich das Haus, um sie schlafen zu lassen. Keine dreißig Minuten später hörte ich die Detonation einer heftigen Bombardierung. Nur wenige Sekunden später sah ich auf Telegram die Nachricht: Das Ziel war das Viertel Jeneina. Mein Herz zog sich zusammen. Ich wusste, dass das Haus meiner Schwiegereltern getroffen worden war – der Ort, an dem meine Frau und Tochter sich aufhielten. Meine Brüder und ich rannten los.


Zwei Kilometer trennten uns von dem Ort. Als wir ankamen, war das Haus fast vollständig zerstört. Schwarzer Staub lag in der Luft, Feuer brannte, Nachbarn hatten sich versammelt, Krankenwagen standen bereit. Ich begann sofort zu suchen. Man sagte mir, es seien bereits Leichen geborgen und ins Krankenhaus gebracht worden. Ich fand meine Tochter nicht. Auf der Straße sah ich dann einen Nachbarn, der sie in den Armen hielt – sie lebte noch. Die Explosion hatte sie vom Haus ihrer Großeltern bis zum Nachbarhaus geschleudert. Sie wurde ins Abu Yusuf Al-Najjar Krankenhaus gebracht. Nach der Untersuchung teilten mir die Ärzte mit, dass sie gestorben war.

 

Im Krankenhaus lag auch der Leichnam einer nicht identifizierten Frau. Sie wurde ins Leichenschauhaus gebracht. Anhand der Kleidung erkannte ich, dass es meine Frau war. Ihr Gesicht war durch den Beschuss kaum noch zu erkennen, es war verbrannt. Bei der Bombardierung starben auch acht Verwandte. Ich konnte mich an den Rettungsarbeiten nicht beteiligen. Ich war wie betäubt.

Abdel J. mit seiner getöteten Tochter © Privat

Am nächsten Morgen, dem 21. Februar, wurden die Toten nach dem Totengebet auf dem Friedhof in der Awni Zahir Straße beigesetzt. Dieser Tag hat mein Leben verändert. Meine Frau und ich hatten Pläne, wollten unsere Tochter behütet aufziehen, ihr ein gutes Leben ermöglichen. Doch all das wurde zerstört. Israel hat mir mein Zuhause genommen, meine Familie, meine Hoffnung. So wie es jedem Einzelnen in Gaza widerfährt. Meine Frau und ihre Familie waren Zivilisten. Sie hatten keinerlei Verbindung zu bewaffneten Gruppen. Drei Jahre lang arbeitete meine Frau als Anwältin im Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte.

 

Zu dieser Realität gehört auch, dass ich mehrfach vertrieben wurde. Immer wieder flohen wir, lebten in Notunterkünften aus Blech. Am 4. Dezember 2024 traf eine Bombardierung den Ort, an dem wir untergekommen waren. Mein Vater, meine drei Brüder, der Ehemann meiner Schwester, seine zwei Töchter und weitere Verwandte kamen ums Leben. Nur meine Mutter, meine beiden Schwestern und ich überlebten.

 

Wir flohen nach Al-Mawasi bei Khan Younis. Am 5. Dezember zogen wir in das Haus meiner Schwester in Khirbet Al-Adas. Dort blieben wir, bis im März 2025 die nächste Eskalation begann – wieder begleitet von schweren Bombardierungen. Als ich vom Massaker in Al-Sultan hörte, wo viele Menschen getötet wurden, entschied ich mich, das Haus meiner Schwester zu verlassen. Ich wollte nicht noch mehr verlieren. Gemeinsam mit meiner Mutter und meinen Schwestern floh ich erneut nach Khan Younis. Dort leben wir bis heute. Unsere Lebensumstände sind katastrophal. Kochgas ist kaum zu bekommen, Lebensmittel sind unerschwinglich oder nicht verfügbar. Seit Beginn des Ramadans im März 2025 blockiert die Armee die Hilfslieferungen und auch sauberes Trinkwasser ist knapp.

 

Wir leben in einer Hütte aus Zinkblech. Im Sommer wird es unerträglich heiß, im Winter eisig kalt. Ich habe Angst vor den ständigen Geräuschen der Flugzeuge. Vor wenigen Tagen wurde ein Ort in unserer Nähe bombardiert, viele starben. Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen. Auch wenn behauptet wird, Al-Mawasi sei sicher – gerade hier konzentrieren sich viele Angriffe. Täglich kreisen Quadrocopter und Apache-Helikopter über unseren Köpfen. Ihre Geräusche lassen die Angst nie verstummen. Ich rechne jederzeit mit dem Tod – im Schlaf, auf der Straße, beim Wasserholen.

 

Doch das Wertvollste habe ich bereits verloren: meine Tochter, meine Frau, meine Familie. Mein Vater ist tot, meine Brüder, mein Schwager, meine Nichten, meine Cousins, Freunde – Menschen, die ich liebe.

 

Mein Alltag besteht aus Warten. Ich knete Brot im Zelt, trage es zu den Lehmöfen, wo ich stundenlang anstehe, um es zu backen. Auch für Wasser stehe ich in langen Schlangen – für eine Gallone, die die Tankwagen bringen. Das ist mein tägliches Leben: Schlange stehen, um zu überleben. Ich wünsche mir nur eines: dass dieses Blutvergießen endet. Dieses Leid, das uns täglich begleitet. Ich habe mein Zuhause verloren, meine Familie, meine Hoffnung. Jede Sekunde wünsche ich den Tod – weil ich unter großer Anspannung und Angst lebe, weil es im Gazastreifen keinen sicheren Ort gibt. Wir alle leben im Schatten unseres eigenen Todes.

 

Khan Younis, den 3. April 2025


(Anmerkung: Die Zeugenaussage wurde zur besseren Verständlichkeit redaktionell bearbeitet, ohne den Inhalt zu verändern.)

Die israelische Kriegsführung im Gazastreifen hat eine humanitäre Katastrophe von historischem Ausmaß verursacht: Zehntausende Tote und Verletzte, die weitgehende Zerstörung ziviler und medizinischer Infrastruktur, massive Kriegsverbrechen und wiederholte Vertreibungen der palästinensischen Zivilbevölkerung.


Gemeinsam mit unseren palästinensischen Partnerorganisationen – dem Palestinian Center for Human Rights (PCHR), Al Mezan und Al Haq – setzen wir uns dafür ein, den Export deutscher Kriegswaffen und Rüstungsgüter nach Israel zu verhindern, die im Gazastreifen für schwere Völkerrechtsverletzungen genutzt werden könnten. Wir fordern Transparenz und Rechenschaft über Export und Einsatz deutscher Waffen. Unser Ziel ist klar: weitere Verstöße gegen nationales und internationales Recht – in Gaza und darüber hinaus – zu unterbinden.


Unsere Arbeit gelingt allerdings nur, wenn Menschen wie Sie an unserer Seite stehen. Mit einer Fördermitgliedschaft stärken Sie unseren Einsatz, gezielt gegen Kriegsverbrechen vorzugehen und die Verantwortlichen an ihre völkerrechtlichen Pflichten zu erinnern. Und Sie ermöglichen es uns den langen Atem zu haben, den es braucht, um juristische und gesellschaftliche Gerechtigkeit durchzusetzen. Es geht um gleiche Menschenrechtsstandards – für alle und überall.

 

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