Die Ereignisse in Syrien überschlagen sich derzeit geradezu, aber fest steht, dass der Mai ein überraschender und bedeutender Monat war. Nach 14 Jahren wirtschaftlicher Not wurden die Sanktionen gegen Syrien endlich aufgehoben. Feiern wie die am 13. Mai, hatte man auf den Straßen Syriens seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember letzten Jahres nicht mehr gesehen.
Kaum hatte US-Präsident Donald Trump in der saudischen Hauptstadt Riad verkündet, dass die Sanktionen gegen Syrien aufgehoben werden, strömten die Menschen in zahlreichen Städten des Landes auf die öffentlichen Plätze, um zu feiern. Es besteht kaum Zweifel daran, dass diese völlig unerwartete Entscheidung zu einer wirtschaftlichen Entlastung führen und den Wiederaufbau nach Jahren des Krieges in Gang setzen wird – ein Krieg, der sowohl die Bevölkerung als auch die Infrastruktur schwer getroffen hat.
Syrien feiert das Ende der Sanktionen
Die Aufhebung der Sanktionen und die erneute Anbindung Syriens an das globale Finanzsystem werden auf lange Sicht die Energie- und Stromprobleme des Landes lösen. Dies wird Syrer*innen ermutigen, ihre Unternehmen wieder aufzunehmen oder neue zu gründen, und Investoren aus Syrien, der arabischen Welt und dem internationalen Raum anziehen. Zugleich werden zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen, die den Menschen ein Einkommen sichern und so die Lebensbedingungen verbessern. Importe und Exporte können dann die Wirtschaft ankurbeln, die Produktivität steigern und die Gesundheitsversorgung ausbauen, indem der Zugang zu modernen Medikamenten und medizinischer Ausrüstung erleichtert wird.
Wenige Tage nach der Entscheidung der USA zogen auch die EU und Japan nach. Am 28. Mai verabschiedete der Rat der Europäischen Union rechtliche Maßnahmen zur Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Syrien – ein historischer Schritt zur Unterstützung des syrischen Volkes in der Phase des Wiederaufbaus und des politischen Übergangs. Zwei Tage später kündigte Japan an, vier nationale Banken von der Liste der sanktionierten Institute zu streichen, deren Vermögenswerte zuvor eingefroren worden waren.
Am 29. Mai unterzeichnete Syrien einen Vertrag im Wert von 7 Milliarden US-Dollar – den größten in der Geschichte seines Energiesektors (laut syrischen Medien). Das Abkommen umfasst den Bau vier hochmoderner Kraftwerke mit US-amerikanischer und europäischer Technologie sowie die Errichtung eines Solarparks. Diese Projekte sollen innerhalb von drei Jahren auf den Weg gebracht werden und langfristig mehr als die Hälfte des syrischen Energiebedarfs decken. Zudem sollen rund 50.000 direkte und 250.000 indirekte Arbeitsplätze entstehen. Für viele Syrer*innen war die Unterzeichnung ein historischer Schritt: der Beginn des Wiederaufbaus einer zerstörten Infrastruktur, die in den letzten Jahren nur wenige Stunden Strom am Tag liefern konnte.
Übergangsjustiz – für wen?
Während es in Syrien breite Zustimmung zur Außenpolitik der Regierung und zum Erfolg der Aufhebung der Sanktionen gibt, gilt dies nicht uneingeschränkt für bestimmte innenpolitische Entscheidungen – insbesondere im Bereich der Justiz und Übergangsjustiz.
Am 17. Mai erließ Präsident Ahmad al-Sharaa das Dekret Nr. (20), mit dem die Nationale Kommission für Übergangsjustiz gegründet wurde. Dieses unabhängige Gremium soll die Wahrheit über die schweren Verbrechen des früheren Regimes aufdecken. Ziel ist es, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, den Opfern Wiedergutmachung zu leisten und die nationale Versöhnung zu fördern.
Die Meinungen in Syrien gehen darüber auseinander: Während einige den Fokus auf die Verbrechen des Assad-Regimes als gerecht und längst überfällig empfinden – endlich sollen jene zur Rechenschaft gezogen werden, die für den Tod ihrer Angehörigen verantwortlich sind – üben andere scharfe Kritik. Sie bemängeln die augenscheinliche Diskriminierung unter den Opfern: Betroffene des IS oder anderer Gruppierungen werde das Recht verweigert, über das Schicksal ihrer Angehörigen aufgeklärt zu werden, Gerechtigkeit einzufordern oder Entschädigungen zu bekommen.
Diese Unterscheidung (und ich zähle mich selbst zu den Kritiker*innen) stellt eine klare Verletzung des Prinzips der Gleichheit vor dem Gesetz dar – der sowohl in der Verfassungserklärung als auch im Völkerrecht verankert ist. Um das Dekret in Richtung eines umfassenderen Verständnis von Übergangsjustiz zu überarbeiten, bedarf es eines offenen Dialogs zwischen Regierung, syrischen und internationalen Organisationen sowie Opferverbänden.
Positiv ist, dass bereits einige Opferverbände und Menschenrechtsorganisationen zu Konsultationen eingeladen wurden, um ihre Perspektive auf die Kommission einzubringen. Ein weiterer Lichtblick ist das unermüdliche Engagement der Zivilgesellschaft in allen Bereichen – von Gesundheit und Bildung bis zu institutionellen Reformen. Ich bin beeindruckt, wie viele Veranstaltungen, Seminare und Treffen täglich – oft parallel – stattfinden. Oft gleicht Damaskus einer lebendigen Werkstatt.
Erfreulich ist auch der Trend, den öffentlichen Raum für Aufklärung, Kunst und Kultur zu nutzen. Im Mai eröffnete „Creative Memory of the Syrian Revolution“ die Ausstellung „Die verschwundenen Gefangenen“ im Nationalmuseum von Damaskus. Zahlreiche Kunstwerke, Fotos, Gemälde und Banner erinnern auch die Gefangenen und Verschwundenen und bekräftigt ihr Recht auf Gerechtigkeit. Das Symposium „Kunst und Kultur als öffentliche Angelegenheit“ fand mit bemerkenswerter Beteiligung junger Männer und Frauen im Garten des Nationalmuseums statt – ein Zeichen für das gestiegene gesellschaftliche Bewusstsein.
Nach 25 Jahren öffnet das Demokratische Forum wieder seine Türen
Zwar ermöglicht das offenere Klima, dass sich mehr Menschen politisch, kulturell oder menschenrechtlich einbringen. Doch das allein erklärt noch nicht den spürbaren Willen vieler Syrer*innen, sich den öffentlichen Raum zurückzuerobern. Immer mehr Menschen fordern von den Behörden, die Rolle der Zivilgesellschaft zu stärken und echte Mitbestimmung bei der Gestaltung des Post-Diktatur-Syriens zu ermöglichen. Dazu gehören auch Forderungen nach echter politischer Inklusion und einem Ende einseitiger Besetzungen von politischen Schlüsselpositionen.
Vielleicht erklärt dieser Geist die große Beteiligung bei der Wiedereröffnung des Forums für demokratischen Dialog am 23. April – mit über 300 Teilnehmenden aus allen gesellschaftlichen Bereichen. 25 Jahre nachdem Bashar al-Assad die Schließung des Forums erzwang, in deren Folge der Gründer und seine Kolleg*innen fünf Jahre in Haft verbrachten, ist es bemerkenswert, den Ort nun wieder mit lebhaften Debatten erfüllt zu sehen. Viele Teilnehmer*innen reisten von weither an – aus Qamishli und Hasaka im Nordosten, aus Latakia an der Küste sowie aus Daraa und Sweida im Südwesten. Einhellig befürworteten alle den nationalen Dialog und die Übergangsjustiz als grundlegende Bausteine für einen dauerhaften Frieden.
Schmerz und Hoffnung
Syrien befindet sich in einer tiefgreifenden und schmerzhaften Übergangsphase. Unerwartet brechen immer wieder beunruhigende Spannungen auf – etwa die konfessionellen Unruhen und Gewaltvorfälle im vergangenen Monat in Jaramana, im Umland von Damaskus, und in der Stadt Sweida. Für Empörung sorgte auch die Freilassung mutmaßlicher Täter schwerer Menschenrechtsverbrechen unter dem Assad-Regime – insbesondere Fadi Saqr, dem vorgeworfen wird, hauptverantwortlich für das Tadamon-Massaker in Damaskus zu sein.
Tiefe Enttäuschung herrscht auch unter den Opfern und Menschenrechtsaktivist*innen über die Pressekonferenz des Leiters des Nationalen Versöhnungskomitees. Dieser rechtfertigte die Freilassungen damit, dass die Beschuldigten bei der Entmachtung des Assad-Regimes in dessen letzten Tagen kooperiert hätten. Er teilte mit, dass Fadi Saqr staatlichen Schutz genieße und nun an „nationaler Versöhnung“ arbeite – ein Paradox, das sich jeder Logik entzieht.
Hoffnung geben mir die verbliebenen Freiräume, die lebendige Zivilgesellschaft und erste Anzeichen für ein erstarkendes zivilgesellschaftliches Bündnis – entschlossen, dem wachsenden Einfluss extremistischer Kräfte entgegenzuwirken, die das Land in eine dunkle Zukunft drängen. In Damaskus spürt man eine ungewöhnlich positive Energie – eine Energie, die sich auf den Gesichtern zeigt und im täglichen Umgang spürbar ist, trotz wirtschaftlicher Not, ausstehender Gehälter und Sorgen um die neue politische Führung. Diese Energie entspringt der Hoffnung und dem kollektiven Traum von einer besseren Zukunft.
Und dennoch – um meinen Optimismus etwas zu zügeln – erinnere ich mich an die Worte meines Freundes Yassin al-Haj Saleh: „Syrien ist und bleibt ein Land, das sich sowohl dem Verstehen als auch der Politik entzieht. Wer den Verlauf dieses furchteinflößenden Landes vorhersagen will, sollte sich selbst zuerst zur Zurückhaltung ermahnen.“
Ihre Joumana Seif
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