Die Feiern in Damaskus sind noch in vollem Gange. Die Menschen auf den Straßen der syrischen Hauptstadt sind toleranter und höflicher denn je, voller Zuversicht auf eine bessere Zukunft.
Seit dem Ende der Assad-Herrschaft kehren viele Syrer*innen aus der Diaspora zurück. Die Zivilgesellschaft ist so aktiv wie nie zuvor: Täglich werden in Workshops und Veranstaltungen die Rolle der Zivilgesellschaft, eine neue mögliche Verfassung, die aktive Beteiligung von Frauen an Entscheidungsprozessen und die Aufarbeitung der Verbrechen diskutiert. Es ist erstaunlich, wie groß und vielfältig die Beteiligung und Begeisterung an den Debatten ist – und das trotz extremer Kälte und fehlender Heizung.
Abends setzen die Aktivist*innen ihre Debatten im Café Al Rawda im Zentrum von Damaskus fort. Hier werden frisch nach Syrien Zurückgekehrte begrüßt, ihre Ankunft mit einem gemeinsamen Lied gefeiert, und dann wird weiter diskutiert. Man trifft Freund*innen und Kolleg*innen, die man seit Jahren nicht gesehen hat, und spürt ihre Freude über die Rückkehr. Auffällig präsent sind Journalist*innen aller syrischen, arabischen und westlichen Medien.
Aus dem Exil zurück nach Syrien
Die glücklichen Rückkehrer*innen kommen oft bei Verwandten, Freund*innen oder in einem Hotel unter, wo es nur an begrenzten Stunden am Tag warmes Wasser zum Duschen gibt. Viele Häuser aber sind durch Beschuss, Fassbomben oder Beschlagnahmung vollkommen unbewohnbar und stehen leer. Ohne Reparaturen, Zugang zur Strom- und Wasserversorgung und der Installation einer Heizmöglichkeit sind sie nicht mehr bewohnbar.
So erlebe ich die Atmosphäre in Damaskus. Die Stadt ist zum Ziel aller geworden, die politisch debattieren, Allianzen bilden und sich auf die nächste Etappe vorbereiten wollen. Das gilt aber bei weitem nicht für die meisten anderen syrischen Städte, mit einigen Ausnahmen wie Salamiya und Masyaf im Gouvernement Hama, wo die Zivilgesellschaft sehr aktiv ist.
Syrien am Scheideweg
Neben der freudigen Aufbruchsstimmung, haben alle auch Ängste und Sorgen. Sei es, weil die neue Regierung es versäumt hat, eine klare und direkte Sprache zu sprechen, um mit ihrer Vergangenheit zu brechen. Sei es, weil sich die Interimsregierung auf mündliche Befehle und Entscheidungen verlässt, anstatt klare schriftliche Erklärungen insbesondere auf der Ebene der Justiz zu formulieren. Oder sei es wegen der Ungewissheit über die Zukunft Syriens, zumal das Wort Demokratie in den offiziellen Reden bisher nicht vorkam.
Syrien, das ist klar, steht heute am Scheideweg. Zwei politische Richtungen und ihre jeweiligen politischen Befürworter konkurrieren fast gleich stark miteinander: Die erste, demokratische Option ist der bürgerliche Rechtsstaat, der die Rechte aller seiner Bürger*innen gleichermaßen und ohne Diskriminierung schützt. Diese Richtung wird Syrien zweifellos zu Wiederaufbau und Wohlstand führen und die Unterstützung des Westens und der demokratischen Länder sichern. Die zweite Option ist das Festhalten der neuen Regierung an der Errichtung eines islamischen Staates. Diese Richtung würde jedoch angesichts der Vielfalt Syriens zu einem Bürgerkrieg führen, dessen Folgen nicht absehbar sind. Anzeichen dafür finden sich bereits heute in konfessionellen Spannungen in Städten wie Homs.
Positiv ist jedoch, und darin sind sich alle Syrerinnen und Syrer einig, dass das zerstörte und erschöpfte Land nach der Befreiung von über 50 Jahren Diktatur nun alle seine Bürger*innen mitsamt all ihrer Energie und ihrem Wissen braucht. Es braucht aber auch die Unterstützung der westlichen Länder und internationalen Partner.
Die Rolle Deutschlands beim Aufbau Syriens
Angesichts der engen Beziehungen, die viele Syrer*innen mit Deutschland aufgebaut haben, hoffe ich, dass Deutschland eine wichtige Rolle bei der Unterstützung des Aufbaus des neuen Syriens spielen wird. Eine Million syrische Flüchtlinge haben hier Schutz gefunden, von denen viele zusätzlich zur syrischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben. Sie studieren an deutschen Universitäten, arbeiten in deutschen Unternehmen und ihre Kinder besuchen deutsche Schulen. Diese Menschen werden eine starke Brücke für die künftige Zusammenarbeit bilden.
Deutschland war auch der erste Staat, der das Weltrechtsprinzip nutzte, um den Überlebenden die Tür zur Gerechtigkeit zu öffnen und die Verantwortlichen für die Verbrechen des Assad-Regimes zur Rechenschaft zu ziehen: Die Bundesregierung stellte den ersten internationale Haftbefehl aus und der weltweit erste Prozess gegen Staatsfolter und systematische Tötung in Syrien fand in Koblenz statt.
Für einen nationalen Dialog
In Syrien braucht es einen ehrlichen, transparenten und kontinuierlichen nationalen Dialog. Nur so können die offenen Fragen und Sorgen angesprochen und Lösungen gefunden werden, die alle Syrer*innen in ihrer Vielfalt stärken und sie ermutigen, sich am Wiederaufbau ihres Landes und an der Gestaltung der Zukunft zu beteiligen. Dazu bedarf es politischer und kultureller Foren, um den noch zerbrechlichen inneren Frieden herzustellen und über die Regierungsform, Übergangsjustiz, Aufarbeitung und Wiedergutmachung zu diskutieren. Ohne diese Foren wird es keinen dauerhaften Frieden geben.
Ich selbst arbeite mit der Hilfe einer Gruppe Aktivist*innen eifrig daran, das von meinem Vater Riad Seif gegründete Forum für Nationalen Dialog wieder aufzubauen. Es war der Ausgangspunkt des Damaszener Frühlings im Jahr 2000 und markierte mit seiner Schließung und der Verhaftung meines Vaters und aller Aktiven im September 2001 das Ende des Aufbruchs. Wenn das Forum demnächst wieder eröffnet, werde ich dafür sorgen, dass es ein Ort wird, an dem wir wichtige Themen wie die Verfassung und die politische Teilhabe von Frauen diskutieren können.
Außerdem richte ich mein Anwaltsbüro im Zentrum von Damaskus ein, das ein Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte sein wird, wobei ich auf die jahrelange Erfahrung in der Zusammenarbeit mit meinen Kolleg*innen vom ECCHR zurückgreifen kann. Deutschland, mein zweites Land, werde ich regelmäßig besuchen, um dort zu arbeiten und Freund*innen und Kolleg*innen zu sehen.
Sowohl mein Anwaltsbüro als auch das Nationale Dialogforum haben einen symbolischen Wert: Die Geschichte des Nationalen Dialogforums ist die Geschichte des Damaszener Frühlings. Das Forum war der erste Funke, der den Frühling auslöste. Seine Schließung im Februar 2001 und die Verhaftung seines ersten Mitarbeiters, meines Vaters, des Abgeordneten Riad Seif, waren der Anfang vom Ende des Damaszener Frühlings. Jetzt, nach dem Ende des Assad-Regimes, stehen wir nach den letzten zwei Jahrzehnten wieder an einem Anfang. Ein neuer Aufbruch in der Geschichte Syriens.
Ihre Joumana Seif
Der Text ist in gekürzter Fassung in der Berliner Zeitung “Der Tagesspiegel” am 29.01.2025 erschienen. |